Wir verwenden Cookies auf unserer Webseite, um Ihren Besuch effizienter zu machen und Ihnen eine möglichst angenehme Nutzung bieten zu können und die Zugriffe auf unsere Website zu analysieren. Dafür setzen wir Google Analytics ein. Weitere Informationen finden Sie in unserer DATENSCHUTZERKLÄRUNG.
Aktuelles:

Poolärzte-Urteil des BSG – Bereitschaftsdienst und Notaufnahmen in Not

24. November 2023

Dr. Marc Anschlag, LL.M., Rechtsanwalt |

Vertragsärztinnen und Vertragsärzte sind zum Bereitschaftsdienst verpflichtet. Sogenannte Poolärztinnen und Poolärzte können zusätzlich am Bereitschaftsdienst freiwillig teilnehmen. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Ruheständler oder Klinikärzte, die dazu eine Vereinbarung mit der jeweils zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung schließen. Poolärzte sind somit freiwillig im Bereitschaftsdienst mitarbeitende Ärztinnen und Ärzte.

Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Sozialversicherungspflicht der Poolärzte und deren erheblicher Bedeutung zur Aufrechterhaltung des Bereitschaftsdienstes gab es einen politischen Diskurs zu einer gesetzlichen Regelung. Der Bundesrat hatte sich im Mai 2023 für eine Ausnahme von der Sozialversicherungspflicht ausgesprochen. Die Bundesregierung hatte diese Forderung zuletzt abgelehnt. Nunmehr ist eine weitreichende Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) ergangen (Anm.: Bei Redaktionsschluss lag lediglich der Terminbericht vor, d. h. die Entscheidungsgründe wurden noch nicht veröffentlicht).

Der Fall

Im durch das BSG am 24.10.2023 (Az. B 12 R 9/21 R) entschiedenen Fall war die Revision eines 58-jährigen Zahnarztes gegen ein 2021 ergangenes Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (Urteil vom 10.12.2021, Az. L 4 2067/19) erfolgreich. Seit dem Verkauf seiner Praxis im Jahr 2017 verfügte der klagende Zahnarzt nicht mehr über eine Zulassung zur vertragszahnärztlichen Versorgung. Im Frühjahr 2018 war er an bestimmten Tagen für die beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden-Württemberg als Zahnarzt im Rahmen des Notdienstes überwiegend am Wochenende tätig. Die Tätigkeit fand in durch die Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) angemieteten und durch diese mit Geräten, Material und Personal ausgestatteten Räumlichkeiten eines Notfalldienstzentrums statt. Der Notdienst wurde sowohl durch an der zahnärztlichen Versorgung teilnehmende Zahnärzte als auch durch nicht hierfür zugelassene Zahnärzte - wie den Kläger - durchgeführt. Der Kläger konnte der KZV seine Bereitschaft zur Übernahme konkreter Schichten erklären. Hiervon ausgehend teilte sie ihn nach ihrem Ermessen zu konkreten Schichten ein. Während einer Schicht waren neben dem Kläger ein bis zwei zahnmedizinische Fachangestellte anwesend, die Assistenz- und Dokumentationstätigkeiten ausführten. Die Vergütung des Klägers richtete sich nach der jeweiligen Schicht und lag pro Stunde zwischen 34 Euro und 50 Euro. Auf den vom Kläger gestellten Statusfeststellungsantrag hin verneinte die später beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund  das Vorliegen von Sozialversicherungspflicht aufgrund einer abhängigen Beschäftigung.

Klage und Berufung des Zahnarztes, gerichtet auf Feststellung der Versicherungspflicht, waren erfolglos. Das Landessozialgericht hatte angenommen, es fehle an einem Beschäftigungsverhältnis vor allem deshalb, weil der Kläger durch die KZV mittels eines (mitwirkungsbedürftigen) Verwaltungsakts zum vertragszahnärztlichen Notdienst herangezogen worden sei und er gemäß § 75 Abs 1b Satz 5 SGB V für die Dauer des Notdienstes an der vertragszahnärztlichen Versorgung teilgenommen habe. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision.

Das BSG entschied anders.

Zentrale Streitpunkte waren die Weisungsgebundenheit des Zahnarztes, seine Einbindung in die Arbeitsorganisation des Notdienstzentrums, die Abrechnung der erbrachten Leistungen sowie die Bereitstellung der Räumlichkeiten und der technischen Ausstattung durch die zuständige KZV.

Der 12. Senat des BSG betonte, dass allein daraus, dass freie Berufe weisungsfrei seien, nicht zu schlussfolgern sei, man sei selbstständig.

Auch im Rahmen eines mitwirkungsbedürftigen Verwal­tungsaktes könne eine abhängige Beschäftigung vorliegen. Auch Beamte seien schließlich aufgrund eines Verwaltungsakts abhängig beschäftigt – nur dass der Gesetz­geber sie eben explizit von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen habe. Der Kläger sei aus Sicht des BSG abhängig beschäftigt gewesen sei. Er sei voll in die Arbeitsorganisation des Notdienstzentrums involviert gewesen, habe aber keinen entscheidenden Einfluss darauf gehabt. Vielmehr habe er eine zuvor organi­sierte Struktur vorgefunden, in die er sich fremdbestimmt eingefügt habe. Er habe keine eigenen Abrechnungen vornehmen können, sondern sei mit einem Stundenhonorar von 34 bis 50 Euro, abhängig von der jeweiligen Schicht, vergütet worden. Der Wegfall der Wirtschaftlichkeitsprüfung in Kombina­tion mit einem festen Lohn zeige, dass der Kläger keinen unternehmerischen Spielraum gehabt  und kein unternehmerisches Risiko getragen habe. Er sei nicht in der Lage gewesen, das Verhältnis von Aufwand und Ertrag durch eigene Entscheidungen zu beeinflussen. Dementsprechend sei er in dem genannten Zeitraum abhängig beschäftigt gewesen und sein Recht auf die Zahlung von Sozialbeiträgen verletzt worden.

Konsequenzen

Seit Monaten warnten ärztliche Verbände, Kassenärztliche Vereinigungen (KVen), die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), sowie die Bundesärztekammer vor einschneidenden Folgen einer möglichen Sozialversicherungspflicht im ärztlichen Bereitschaftsdienst für die ambulante Versorgung. Politische Initiativen zu einer Sonderregelung scheiterten.

Die KV Baden-Württemberg beendete nach der Entscheidung die Teilnahme der Poolärzte am ärztlichen Notfalldienst mit sofortiger Wirkung. Das bestehende System könne in der bisherigen Form nicht weitergeführt werden, da der ärztliche Bereitschaftsdienst in seiner Organisationsstruktur wesentliche Ähnlichkeiten mit dem zahnärztlichen Bereitschaftsdienst aufweise. Vor dem Urteil haben laut KV Baden-Württemberg rund 3000 Poolärzte etwa 40% der Dienste in den Notfallpraxen und der medizinisch erforderlichen Hausbesuche übernommen zur Entlastung der niedergelassenen Ärzte. Ihr Wegfall könne nicht schnell kompensiert werden.

Nach der weitreichenden Entscheidung des Bundessozialgerichts ist in Baden-Württemberg ein für mindestens drei Monate geltender Notfallplan für den ärztlichen Bereitschaftsdienst angelaufen. Patienten müssen sich in nächster Zeit voraussichtlich auf längere Wartezeiten und vollere Praxen einstellen – insbesondere am Wochenende und außerhalb der Sprechzeiten. Einige Notfallpraxen bleiben derzeit komplett geschlossen, in anderen kommt es zu Einschränkungen.

Fazit

Poolärzte sind nicht nur in Baden-Württemberg in erheblichem Umfang am Bereitschaftsdienst beteiligt. Nun müssen die Versorgungsstrukturen der Notfallpraxen mit sofortiger Wirkung dramatisch umstrukturiert werden.

Die Entscheidung strahlt gleichermaßen in andere Bundesländer aus, so dass mit erheblichen Einschränkungen beim vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst und weiterem Patientendruck auf die Notaufnahmen in Krankenhäusern zu erwarten ist. Die Situation in den Notaufnahmen dürfte sich daher weiter verschärfen.

Es ist mit Intensivierung politischer Bestrebungen zu einer gesetzlichen (Ausnahme-)Regelung zu rechnen, die für die Notfallversorgung sinnvoll wäre.